Die Logik des europäischen Traums Johannes Heinrichs
Broschiert: 225 Seiten
Verlag: academia Richarz GmbH; Auflage: 1. Aufl. (17. April  2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3896656414
ISBN-13: 978-3896656414
Dem Traum Struktur und Chancen geben
Rezension vom 12. Juni 2014
Geschafft – die Europawahlen 2014 sind überstanden. Knapp   jeder zweite  wahlberechtigte Europäer beteiligte sich am je  nationalen Auswahlverfahren zur  multinationalen  Gesprächsversammlung, die sich mutig Europaparlament  nennt. Die  Wähler sollten mit ihrer Wahl entscheiden können,  wer der kommende Kommissions-  Präsident wird. So  lauteten zumindest die Wahlkampfversprechen. Unmittelbar  nachdem die Mehrheit feststanden und Jean-Claude Juncker  von den Fraktionen als  Wahlsieger anerkannt war, zeigten die   Regierungschefs im europäischen Rat, wie sehr  ihnen Wahl  und Ergebnis „am Arsch vorbeigehen“.
Europa bleibt auf antidemokratischen Kurs und den  Zielsetzungen des Washington  Konsens treu ergeben.  Danach sind die Völker Einsparungsprozessen zu  unterwerfen,  damit internationale Banken ihr Geld  bekommen. In der Komplizenschaft der Troika  (IWF,  Weltbank und EZB) werden die südeuropäischen Länder  systematisch  überschuldet und verarmt. So wird auch  innerhalb der „Festung Europa“ ausreichend  Proletariat und  Prekariat erzeugt, um im irrsinnigen ökonomischen  Wettbewerb mit  asiatischen und afrikanischen  Billiglohnländern zu bestehen.
„Alternativlos“ bezeichnet die deutsche Kanzlerin als Chefin  einer der dem  Washingtoner Konsens treu ergebenden  westlichen Regierungen solchen Anstieg der  Lohnsklaverei.  TINA „THERE IS NO ALTERNITY“ behaupten  gebetsmühlenartig die  Vertreter globaler Profitökonomie.
Diejenigen, die sich mit TINA nicht abfinden wollen, entwickeln   ökonomische  Alternativpläne mit dem Ziel, die  Lebenssituation der Menschen zu verbessern.  Mindestlohn,  Rentenreform, Vollgeld und Komplementärwährungen,  regionale Kreislaufwirtschaften und Gemeinwohlökonomie –  als könnte über ökonomische  Reformen die Herrschaft des  Kapitalismus gebrochen und überwunden werden.
Doch der Traum „Europa“ hakt nicht nur in der Ökonomie.  Unter „full spectrum  dominance“ streben amerikanischer  Regierungen nicht nur nach der imperialen  Beherrschung aller   ökonomisch nutzbaren Weltressourcen. Der US-  Präsidentenberater Brzezinski beschreibt in seinem Buch  „Die einzige Weltmacht“ 2004 Führungsanspruch  der USA in  den vier Schlüsselbereichen der Macht. Kein anderes Land  dürfen die USA  überholen in den militärischen,  wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen  Bereichen.  Unter dem Einfluss dieser US-Doktrin erlangte eine  ausbeuterische  Ökonomie die Vorherrschaft auch in Europa,  hinterlässt in der europäischen Völkervielfalt einen Kahlschlag   der Kulturen, hebelt die in der abendländischen Kultur  entwickelten Leit- und Grundwerte aus.
Das Handeln europäischer Regierungen orientiert sich immer  seltener an der Charta  der Menschenrechte, der Sozialcharta  Europas oder den in verschiedenen  Verfassungen  beschriebenen Grundwerten. Die Wähler Europas dürfen zwar   regelmäßig ihre Stimme abgeben, doch legitimieren nicht sie   die Werte an denen sich  Politik in Europa und den  Mitgliedstaaten ausrichtet.
Wer sich nicht nur an ökonomischen Missständen und  Verwerfungen aufreiben will,  steht vor einem Berg von  Fragen. Fragen, die zwar auch mit Ökonomie zu tun haben,  die aber auf den gesamten Komplex des  zwischenmenschlichen Handelns und des  gesellschaftlichen  Miteinander verweisen.
Der geweitete Blick auf die Gesellschaft als Ganzes und die  aus dem  zwischenmenschlichen Handeln sich entwickelnden  Subsysteme der Gesellschaft prägt  das Denken Johannes  Heinrichs. Als Professor für Sozialphilosophie an der  Jesuitenhochschule Sankt Georgen, Frankfurt entdeckte er  die allen Menschen  innewohnende (implizite) Logik  zwischenmenschlichen Handelns. Seine 1976 erstmals  als  „Logik des Sozialen“ vorgestellte Reflexionstheorie legt  Heinrichs den  Überlegungen zum „europäischen Traum“  zugrunde.
Dem Themenwirrwarr, den Interessen-Verflechtungen und den   machtpolitischen, doch  sachwidrigen „Paket-Lösungen“  heutiger Regierungen und der ihnen unterstehenden  Parlamente setzt er die sachgerechte Trennung der  Politikfelder und die gegliederte  parlamentarische  Zuständigkeit entgegen.
So ist er in der Lage, das Phänomen Europa nicht nur als  €uroland zu betrachten,  sondern in seiner geschichtlich  gewachsenen Vielfalt. In der kulturellen Dichte dieses  Kontinents der Völker ist Europa auch eine  Wirtschaftsgemeinschaft, doch ist sie nicht  darauf reduzierbar.
Die unterschiedlichen Kulturen, ihre je nationalen  Ausprägungen formten je eigene  Staaten als souveräne  Rechtsgemeinschaften und erzeugten einen gemeinsamen  Grundwerte-und Menschenrechtskanon.
Nach Heinrichs hat Europa, haben die Menschen, Kulturen  und Völker Europas (und  der Welt wie er im Teil III seines  Buches zeigt) gute Zukunftsaussichten, wenn Sie sich  konsequent an den sozialethischen Prinzipien orientieren:
• dem Solidaritätsprinzip der Verbundenheit
• dem Rechtsprinzip der Gleichbehandlung von Gleichem und  der Ungleichbehandlung  von Ungleichem
• dem Subsidiaritätsprinzip der angemessenen und  geforderten Eigenständigkeit von  Gemeinschaften,  Religionen und Nationen
• der sachgemäßen strukturellen Stufe jedes sozialen  Organismus in Integration-durch-  Differenzierung.
„Die Logik des europäischen Traums“ ist nicht Heinrichs erste   differenzierte Darlegung  zur Entwicklung moderner  Demokratie. Seine „Revolution der Demokratie“ aus dem Jahr   2003 erscheint in diesem Jahr in zweiter Auflage. Doch die  nun vorgelegte  systemtheoretische Vision ist für den  philosophisch unbescholtene Leser einsichtiger  dargelegt  und beschrieben.
Wer heute den Anspruch erhebt, zur Demokratiereform  beizutragen, kommt endgültig  nicht mehr an Johannes  Heinrichs vorbei – ja, er wird sich an dessen Überlegungen  messen lassen müssen.