Dem Traum Struktur und Chancen geben
Rezension vom 12. Juni 2014
Geschafft – die Europawahlen 2014 sind überstanden. Knapp
jeder zweite wahlberechtigte Europäer beteiligte sich am je
nationalen Auswahlverfahren zur multinationalen
Gesprächsversammlung, die sich mutig Europaparlament
nennt. Die Wähler sollten mit ihrer Wahl entscheiden können,
wer der kommende Kommissions- Präsident wird. So
lauteten zumindest die Wahlkampfversprechen. Unmittelbar
nachdem die Mehrheit feststanden und Jean-Claude Juncker
von den Fraktionen als Wahlsieger anerkannt war, zeigten die
Regierungschefs im europäischen Rat, wie sehr ihnen Wahl
und Ergebnis „am Arsch vorbeigehen“.
Europa bleibt auf antidemokratischen Kurs und den
Zielsetzungen des Washington Konsens treu ergeben.
Danach sind die Völker Einsparungsprozessen zu
unterwerfen, damit internationale Banken ihr Geld
bekommen. In der Komplizenschaft der Troika (IWF,
Weltbank und EZB) werden die südeuropäischen Länder
systematisch überschuldet und verarmt. So wird auch
innerhalb der „Festung Europa“ ausreichend Proletariat und
Prekariat erzeugt, um im irrsinnigen ökonomischen
Wettbewerb mit asiatischen und afrikanischen
Billiglohnländern zu bestehen.
„Alternativlos“ bezeichnet die deutsche Kanzlerin als Chefin
einer der dem Washingtoner Konsens treu ergebenden
westlichen Regierungen solchen Anstieg der Lohnsklaverei.
TINA „THERE IS NO ALTERNITY“ behaupten
gebetsmühlenartig die Vertreter globaler Profitökonomie.
Diejenigen, die sich mit TINA nicht abfinden wollen, entwickeln
ökonomische Alternativpläne mit dem Ziel, die
Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Mindestlohn,
Rentenreform, Vollgeld und Komplementärwährungen,
regionale Kreislaufwirtschaften und Gemeinwohlökonomie –
als könnte über ökonomische Reformen die Herrschaft des
Kapitalismus gebrochen und überwunden werden.
Doch der Traum „Europa“ hakt nicht nur in der Ökonomie.
Unter „full spectrum dominance“ streben amerikanischer
Regierungen nicht nur nach der imperialen Beherrschung aller
ökonomisch nutzbaren Weltressourcen. Der US-
Präsidentenberater Brzezinski beschreibt in seinem Buch
„Die einzige Weltmacht“ 2004 Führungsanspruch der USA in
den vier Schlüsselbereichen der Macht. Kein anderes Land
dürfen die USA überholen in den militärischen,
wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Bereichen.
Unter dem Einfluss dieser US-Doktrin erlangte eine
ausbeuterische Ökonomie die Vorherrschaft auch in Europa,
hinterlässt in der europäischen Völkervielfalt einen Kahlschlag
der Kulturen, hebelt die in der abendländischen Kultur
entwickelten Leit- und Grundwerte aus.
Das Handeln europäischer Regierungen orientiert sich immer
seltener an der Charta der Menschenrechte, der Sozialcharta
Europas oder den in verschiedenen Verfassungen
beschriebenen Grundwerten. Die Wähler Europas dürfen zwar
regelmäßig ihre Stimme abgeben, doch legitimieren nicht sie
die Werte an denen sich Politik in Europa und den
Mitgliedstaaten ausrichtet.
Wer sich nicht nur an ökonomischen Missständen und
Verwerfungen aufreiben will, steht vor einem Berg von
Fragen. Fragen, die zwar auch mit Ökonomie zu tun haben,
die aber auf den gesamten Komplex des
zwischenmenschlichen Handelns und des gesellschaftlichen
Miteinander verweisen.
Der geweitete Blick auf die Gesellschaft als Ganzes und die
aus dem zwischenmenschlichen Handeln sich entwickelnden
Subsysteme der Gesellschaft prägt das Denken Johannes
Heinrichs. Als Professor für Sozialphilosophie an der
Jesuitenhochschule Sankt Georgen, Frankfurt entdeckte er
die allen Menschen innewohnende (implizite) Logik
zwischenmenschlichen Handelns. Seine 1976 erstmals als
„Logik des Sozialen“ vorgestellte Reflexionstheorie legt
Heinrichs den Überlegungen zum „europäischen Traum“
zugrunde.
Dem Themenwirrwarr, den Interessen-Verflechtungen und den
machtpolitischen, doch sachwidrigen „Paket-Lösungen“
heutiger Regierungen und der ihnen unterstehenden
Parlamente setzt er die sachgerechte Trennung der
Politikfelder und die gegliederte parlamentarische
Zuständigkeit entgegen.
So ist er in der Lage, das Phänomen Europa nicht nur als
€uroland zu betrachten, sondern in seiner geschichtlich
gewachsenen Vielfalt. In der kulturellen Dichte dieses
Kontinents der Völker ist Europa auch eine
Wirtschaftsgemeinschaft, doch ist sie nicht darauf reduzierbar.
Die unterschiedlichen Kulturen, ihre je nationalen
Ausprägungen formten je eigene Staaten als souveräne
Rechtsgemeinschaften und erzeugten einen gemeinsamen
Grundwerte-und Menschenrechtskanon.
Nach Heinrichs hat Europa, haben die Menschen, Kulturen
und Völker Europas (und der Welt wie er im Teil III seines
Buches zeigt) gute Zukunftsaussichten, wenn Sie sich
konsequent an den sozialethischen Prinzipien orientieren:
• dem Solidaritätsprinzip der Verbundenheit
• dem Rechtsprinzip der Gleichbehandlung von Gleichem und
der Ungleichbehandlung von Ungleichem
• dem Subsidiaritätsprinzip der angemessenen und
geforderten Eigenständigkeit von Gemeinschaften,
Religionen und Nationen
• der sachgemäßen strukturellen Stufe jedes sozialen
Organismus in Integration-durch- Differenzierung.
„Die Logik des europäischen Traums“ ist nicht Heinrichs erste
differenzierte Darlegung zur Entwicklung moderner
Demokratie. Seine „Revolution der Demokratie“ aus dem Jahr
2003 erscheint in diesem Jahr in zweiter Auflage. Doch die
nun vorgelegte systemtheoretische Vision ist für den
philosophisch unbescholtene Leser einsichtiger dargelegt
und beschrieben.
Wer heute den Anspruch erhebt, zur Demokratiereform
beizutragen, kommt endgültig nicht mehr an Johannes
Heinrichs vorbei – ja, er wird sich an dessen Überlegungen
messen lassen müssen.
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