Briefe ins Heute
Rezension vom 17. April 2012
Alt ist er geworden, Hyperion, der "Eremit in Griechenland". Nun
reflektiert er sein Leben in Briefen an seinen deutschen Freund
Bellarmin.
1797, mit 26 Jahren schafft der Theologe, Philosoph und Dichter
Friedrich Hölderlins einen Roman voll poetischer Sprachgewalt, reichen
Analogien und seherischen Bilderwelten, die die Begrifflichkeiten der
aufklärerischen Philosophie seiner Zeit sprengen und überschreiten.
Schon seine Zeitgenossen taten sich mit Hölderlins Briefroman
"Hyperion" schwer.
Wieviel schwerer fällt es uns heute, dieses Werk Hölderlins zu begreifen?
Sprachstil, Bilderwelten und zeitgenössischer Horizont des
ausgehenden 18. Jahrhunderts sind uns heute nicht mehr so einfach
zugänglich. Wenige Hölderlin-Forscher mühen sich mit dem Werk ab.
Philologen konzentrieren sich vornehmlich auf die spätere Lyrik des
Tübinger Romantikers.
Hölderlin? War das nicht dieser geistig erkrankte Romantiker, der so
lange in einem Turm in Tübingen lebte, dass man diesen seither nach
ihm benannte.
Hätte ich als Jugendlicher den Weg eines deutschen Gymnasiasten mit
klassischer Bildung und Abitur eingeschlagen, wären mir vielleicht ein
paar Assoziationen mehr eingefangen. So dümpelte Hölderlin in meinem
Erfahrungsschatz irgendwo zwischen Holland, Holstein und Holunder -
bis Johannes Heinrichs einen Zugang in die Denk- und Bilderwelt dieses
Mannes schuf, den ich nun mehr als einen der Großen der deutschen
Klassiker erfahren darf.
Den Hyperion aus Studierstuben und staubigen Bucharchiven nun in den
gesellschaftlichen Dialog einzubringen, bedarf es jener Fähigkeiten, die
auch Restauratoren alter Künste auszeichnen. Der Philosoph Prof.
Johannes Heinrichs erbringt diese Qualitäten, da er zugleich
Sprachwissenschaftler und Literat ist.
Vermittelt Heinrichs in seinen Büchern oft den Eindruck, der Leser solle
sich zuvor durch ein eigenes Philosophiestudium rüsten, so schreibt der
Autor jetzt ausgesprochen gastfreundlich. Heinrichs nimmt auch den nicht
wissenschaftlichen Leser bei der Hand und bereitet ihn in der 66-
seitigen Einführung zielgerichtet und verständlich auf das eigentliche
Werk vor.
Das eigentliche Werke im Doppelsinn:
* Hölderlins Briefroman "Hyperion", bestehend aus 64 Briefen, aufgeteilt
in vier Büchern, erschienen im zweiten Teilbänden ( Bd 1 Ostern 1797,
Bd 2 Herbst 1799)
* Heinrichs den Text begleitender Kommentar als Brückenschlag in
unsere Zeit.
In zwei einführenden Kapiteln skizziert Heinrichs seine viergliedrige
Reflektionslogik und deren Anwendung auf Sprach - und
Handlungstheorie.
Zudem beleuchtet der Autor den "Hyperion" in seiner literarischen,
zeitgeschichtlichen und philosophischen Bedeutung als ein
Gesamtkunstwerk, das den Werken seiner zeitgenössischen Freunde
Hegel, Schelling, Fichte wie auch Goethe und Schiller in nichts nachsteht,
ja sie literarisch und philosophisch gar übertrifft.
Der dem dialogischen Kommentar nachgestellte Rückblick im dritten Teil
des Buches verdichtet diese Einschätzung aus der Einführung. Die
Strukturanalyse des hölderlinschen Romans fordert dem Leser einiges
ab, bietet zugleich aber auch die reflektierende Gesamtschau des zuvor
in Einzelschritten kommentierten Werkes.
Im Dreischritt von philosophisch-sprachwissenschaftlicher Einführung,
dialogischem Kommentar und strukturanalytischem Rückblick gelingt es
Heinrichs, uns heutigen Lesern für die jetzt notwendigen
gesellschaftlichen Aufbrüche den Hölderlin/Hyperion als inspirierenden
Mentor zur Seite zu stellen. Die anhaltende Dynamik des über 200 Jahre
alten Romans ist heute höchst aktuell, denn der "Schnee von gestern ist
die Überschwemmung von heute und morgen" (Heinrichs).
Im Urteil Heinrichs ist Hölderlin mit seiner geforderten "Revolution der
Gesinnungen und Vorstellungarten" gedanklich ein Zeitgenosse auch uns
Heutigen, die wir nicht allein eine neue Demokratie-Architektur erbauen
wollen, sondern sie in einer Revolution aus Geist und Liebe anstreben.
Wieder ist es ein dickes Buch, 600 Seiten geistige Vollwertkost legt
Johannes Heinrichs diesmal vor. Für Bücherfresser etwa eine
Wochenlektüre. Dieses Buch aber lohnt mehr Zeit.
Für den ersten Lesegang nahm ich mir fünf Wochen Zeit und separierte
dieses Buch in meine Sonderedition, aus der ich mir immer wieder eine
Tagesdosis Anregungen nehme.
Die beste Empfehlung für dieses Buch schreibt Hölderlin selbst als
Einleitung zu seinem Roman:
Ich verspräche gerne diesem Buche die Liebe der Deutschen. Aber ich
fürchte, die einen werden es lesen, wie ein Compendium, und um das
fabula docet sich zu sehr bekümmern, indeß die anderen gar zu leicht es
nehmen, und beede Theile verstehen es nicht.
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