Integrale Philosophie Johannes Heinrichs
Taschenbuch: 272 Seiten
Verlag: academia Richarz; Auflage: 1 (15. August  2014)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3896656473
ISBN-13: 978-3896656476
Hohe Schule des disziplinierten Denkens
Rezension vom 9. November 2014
     
Es liegt so viel im Argen. Kritische Analysen von Missständen in  Wirtschaft, Gesellschaft,  nationaler und internationaler Politik füllen  Bände und Bücherwände. Weit geringer in Anzahl  und Qualität sind die  solchen Analysen folgenden konstruktiven Lösungskonzepte.
Es scheint, als folgten die Autoren noch immer dem Gedanken Max  Horkheimers und  Theodor W. Adornos, bereits die kritische Analyse und   das Thematisieren von  Fehlentwicklungen führe über die „negative  Dialektik“ zu besseren Weiterentwicklungen.
Zugleich gibt es eine Fülle von Lösungsideen für bestimmte Symptome,  Einzelthemen und  Themengruppen, denen es leider an systemischer  Analyse und Einordnung mangelt. Sie  wurzeln in Betroffenheit und  spezifischer Interessenlage der verschiedenen Gruppen.  Bürgerinitiativen, Projektgruppen, Verbände, nationale und internationale  Nichtregierungsorganisationen (NGO), Lobbyisten, Parteien,  Kommissionen und  Ministerien füllen mit stets neuen (oder auf Neu  gestylten) Konzepten den Bauchladen  politischer Beliebigkeiten.  Unbefriedigt nehmen sie zur Kenntnis, wie die Strategen allseits  dominanter Wirtschaft und Machtpolitik sich das ihnen Genehme und ins  eigene Kalkül  Passende aus diesem Bauchladen herauspicken.
Die Möglichkeit, in freiem Palaver – auch Diskurs genannt – Ideen zu  entwickeln und als  politische Konzepte in den Bauchladen einzuwerfen,  wird uns immer wieder als Demokratie  verkauft. Dazu gehört auch die  Einladung in regelmäßigen Abständen Volksvertreter zu  wählen, die mit  diesem Bauchladen agieren und Politik verantworten sollen.
Wer den politischen Murks beklagt, übersieht, dass solcher Murks sich  konsequent aus dem  System „Bauchladen“ ergibt, besser aus dessen  unsystematischem Sammelsurium.
Vernünftige und kluge Ladenbesitzer hätten längst eine Ordnung und  Systematik in die  Bedarfs-, Angebots- und Leistungsvielfalt gebracht.  Doch dazu bedarf es des Nachdenkens  über Ordnungssysteme und  deren Tiefenstruktur. Welcher Buchhändler oder Bibliothekar  würde  Bücher nach Größe und Einbandfarbe ordnen? Experten entwickeln die  Ordnungssysteme und Tiefenstrukturen von industriellen Material- und  Ersatzteillagern.  Ordnungssysteme wie das Periodensystem chemischer   Elemente sichern  naturwissenschaftliches Arbeiten und die dort  entstandenen Einsichten ab.
Wer aber sorgt sich um eine derart systemische Tiefenstruktur  gesellschaftsrelevanter  Themen, Fragestellungen und Lösungskonzepte?   Ist es nicht eine geisteswissenschaftliche  Aufgabe, der Themenfülle  wertungsfrei und vorurteilsfrei eine systemische Ordnung und  Struktur zu  geben? Dabei definiert Heinrichs „System“ als „ein vollständiges Ganzes  einer  Reihe aufeinanderbezogener Elemente“. (42)
Hoch geschätzte und gern zitierte Philosophen wie Immanuel Kant,  Johann Gottlieb Fichte  und Georg Wilhelm Friedrich Hegel sahen in  solcher Ordnung eine zentrale Aufgabe der  Philosophie. Doch sie sind  tot - den nachfolgenden Philosophen reicht es seit  Generationen, über  Einzelthemen tiefgründig nachzudenken. Um eine Strukturierung der  Denkarbeit mühten sich nur Wenige.
Zu diesen Ausnahmeerscheinungen zählt Johannes Heinrichs. Basierend   auf seiner  Einsicht in die gelebte Reflexion, dessen immanenter Logik  zwischenmenschlichen  Handelns und deren ausdrücklicher Reflexion in  vier grundlegenden Wertstufen begründet er  eine die gesamte  Erfahrungswelt der Menschen umfassende Reflexionslogik. Mit ihr  behauptet er sich in der Meisterklasse abendländischer Philosophie –  dem Strukturalismus.  Anknüpfend an die großen Denker der Aufklärung  entwickelt er auf eigenen Pfaden das  Ordnungssystem der  Geisteswissenschaften und dessen Tiefenstruktur. Auch  Themenfeldern,  in denen ihm nach eigenem Bekennen tiefere Erfahrungen und Wissen  fehlen, kann er doch Raum und Stellenwert im philosophischen Denken  zuordnen. Dabei  gelingt es ihm, immer wieder an die Phänomene  menschlicher Erfahrungen anzuknüpfen  und die vorgeschlagene  Strukturierung auch philosophisch ungeschulten Lesern plausibel zu  machen.
Heinrichs nicht nur formale sondern zugleich inhaltliche Themenstruktur  bietet sowohl  Lösungen als auch vertiefende Fragestellungen und  markiert neue Forschungsfelder.
So wird für die Berufe in Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung  ersichtlich, dass ihre  Aufgabe weniger in einer Erziehung hin auf kulturell  tradierte Erziehungsziele liegt als in  begleitender Förderung eines  bewusst reflexiven Lebens der anvertrauten Personen.  Diesem  Gedanken folgend, erweisen sich die reflexionslogische  Handlungstheorie und vor  allem das daraus entwickelte Periodensystem  (zwischen-)menschlicher Handlungen als  „Materialkunde“ aller  pädagogischen, psychologischen und therapeutischen Berufe. Wie ein  Schreiner die Holzarten, ein Schlosser oder Mechaniker die Metallarten,  ihre Eigenschaften  und Bearbeitungsmöglichkeiten erlernen und kennen  muss, gehört zu jedem Beruf ein je  spezifisches „Materialwissen“.  Ausgerechnet bei jenen Berufen, die explizit mit Menschen  und ihrer  Entwicklung zu tun haben, stehen die reflexionslogische Handlungstheorie   und das  Periodensystem zwischenmenschlichen Handelns bislang nicht  auf den Lehrplänen.
Eingebunden in die „Integrale Philosophie“ entwickelt er  sozialphilosophisch eine optimale  Verbindung direktdemokratischer  Ansprüche und einem repräsentativen Parlament.  Ausführlich entfaltet er  dieses Konzept in „Revolution der Demokratie“, das in überarbeiteter  2.  Auflage zeitgleich mit der „Integralen Philosophie“ erschienen ist.  Näheres dazu in meiner  dortigen Rezension.
Heinrichs „Integrale Philosophie“ entfaltet die philosophische Reflexion  ausgehend von der  Selbstbezüglichkeit des über eigene Erfahrungen  nach-denkenden Menschen. Er schlägt  den Bogen vom Handeln über  Ausdrucks- und Zeichenhandeln hin zur Sprache in ihren  verschiedenen  Abstufungen bis hin zur überhöhenden Reflexion der Sprache in der  Kunst.  Souverän schreitet der Autor über die Kunstphilosophie zur  systematischen Reflexion der  Sinn- und Seinsfragen in Mystik und  Ontologie, um am Ende des Bogens wieder beim  Handeln  anzukommen.  Diesmal jedoch bei der ethischen Reflexion des Handelns  auf  dessen  Wertgehalt und Sinnschöpfung.
In seiner Religionsphilosophie begegnet Heinrichs den Weisheitslehren  der verschiedenen  Religionen und Kulturen mit großem Respekt, sind  sie  in ihrer niedergeschriebenen Form  doch jeweils menschliche  Erfahrungen mit den Phänomenen des Göttlichen. Auch den nicht  beweisbaren Dimensionen esoterischer, mystischer und spiritueller  Erfahrungen gibt der  Autor ihre strukturelle Zuordnung.
Der einstige Jesuitenprofessor Heinrichs hatte diese geistige Weite über   Ordenslehre und  kirchliche Dogmatik hinaus gesucht. In Orden und  Kirche fand er diese Weite nicht, kehrte  ihnen konsequent den Rücken  und zahlte mit dem akademischen Exil einen hohen Preis.
Noch begreifen weder Kirche noch Orden, wie sehr sie sich durch die  Missachtung  Heinrichs und seiner Reflexionslogik selbst schadeten.  Allein seine Sozialphilosophie hätte  anknüpfend an die Systemkritik Karl  von Vogelsangs (1818-1890) bis Johannes  Kleinhappels (1893-1979)  die traditionelle katholische Soziallehre revolutionieren können.  So aber  verblieb und verbleibt sie in der Selbstfesselung durch die grundsätzliche  Akzeptanz des kapitalistischen Systems, der Kritik allein auf die  „Verwerfungen“ und eine  systemimmanente Sozialpolitik. Gemessen am  eigenen Anspruch der Überwindung des  Proletariats trifft leider das  Urteil: „Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger geendet“. Doch zu  den  „verleugneten Propheten“ christlicher Sozialethik mehr später und an  anderer Stelle.
Die „Integrale Philosophie“ wäre ein faszinierendes Propädeutikum zum  Philosophiestudium wenn – ja wenn – diese Art von Philosophie im  akademischen  Lehrbetrieb Thema wäre. Doch die vom Jesuitenorden  und katholischer Kirche unter  Nutzung des Konkordatsrechtes  betriebene  Verbannung des einstigen Musterschülers aus  den  Universitäten wirkt  nach.
Doch nach Paul Watzlawik gibt es auch immer etwas Gutes im Bösen.  Die Rückschau auf  Heinrichs Lebenswerk erlaubt den Gedanken, ob  nicht gerade das akademische Exil die  Brillanz seiner Arbeit befördert  hat. Wie es einst der polnische Philosoph Stanislav Jerzy  Lec pointierte:  „Man hat mir meine Saite gekürzt, nun klingt sie höher!“