Hohe Schule des disziplinierten Denkens
Rezension vom 9. November 2014
Es liegt so viel im Argen. Kritische Analysen von Missständen in
Wirtschaft, Gesellschaft, nationaler und internationaler Politik füllen
Bände und Bücherwände. Weit geringer in Anzahl und Qualität sind die
solchen Analysen folgenden konstruktiven Lösungskonzepte.
Es scheint, als folgten die Autoren noch immer dem Gedanken Max
Horkheimers und Theodor W. Adornos, bereits die kritische Analyse und
das Thematisieren von Fehlentwicklungen führe über die „negative
Dialektik“ zu besseren Weiterentwicklungen.
Zugleich gibt es eine Fülle von Lösungsideen für bestimmte Symptome,
Einzelthemen und Themengruppen, denen es leider an systemischer
Analyse und Einordnung mangelt. Sie wurzeln in Betroffenheit und
spezifischer Interessenlage der verschiedenen Gruppen.
Bürgerinitiativen, Projektgruppen, Verbände, nationale und internationale
Nichtregierungsorganisationen (NGO), Lobbyisten, Parteien,
Kommissionen und Ministerien füllen mit stets neuen (oder auf Neu
gestylten) Konzepten den Bauchladen politischer Beliebigkeiten.
Unbefriedigt nehmen sie zur Kenntnis, wie die Strategen allseits
dominanter Wirtschaft und Machtpolitik sich das ihnen Genehme und ins
eigene Kalkül Passende aus diesem Bauchladen herauspicken.
Die Möglichkeit, in freiem Palaver – auch Diskurs genannt – Ideen zu
entwickeln und als politische Konzepte in den Bauchladen einzuwerfen,
wird uns immer wieder als Demokratie verkauft. Dazu gehört auch die
Einladung in regelmäßigen Abständen Volksvertreter zu wählen, die mit
diesem Bauchladen agieren und Politik verantworten sollen.
Wer den politischen Murks beklagt, übersieht, dass solcher Murks sich
konsequent aus dem System „Bauchladen“ ergibt, besser aus dessen
unsystematischem Sammelsurium.
Vernünftige und kluge Ladenbesitzer hätten längst eine Ordnung und
Systematik in die Bedarfs-, Angebots- und Leistungsvielfalt gebracht.
Doch dazu bedarf es des Nachdenkens über Ordnungssysteme und
deren Tiefenstruktur. Welcher Buchhändler oder Bibliothekar würde
Bücher nach Größe und Einbandfarbe ordnen? Experten entwickeln die
Ordnungssysteme und Tiefenstrukturen von industriellen Material- und
Ersatzteillagern. Ordnungssysteme wie das Periodensystem chemischer
Elemente sichern naturwissenschaftliches Arbeiten und die dort
entstandenen Einsichten ab.
Wer aber sorgt sich um eine derart systemische Tiefenstruktur
gesellschaftsrelevanter Themen, Fragestellungen und Lösungskonzepte?
Ist es nicht eine geisteswissenschaftliche Aufgabe, der Themenfülle
wertungsfrei und vorurteilsfrei eine systemische Ordnung und Struktur zu
geben? Dabei definiert Heinrichs „System“ als „ein vollständiges Ganzes
einer Reihe aufeinanderbezogener Elemente“. (42)
Hoch geschätzte und gern zitierte Philosophen wie Immanuel Kant,
Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel sahen in
solcher Ordnung eine zentrale Aufgabe der Philosophie. Doch sie sind
tot - den nachfolgenden Philosophen reicht es seit Generationen, über
Einzelthemen tiefgründig nachzudenken. Um eine Strukturierung der
Denkarbeit mühten sich nur Wenige.
Zu diesen Ausnahmeerscheinungen zählt Johannes Heinrichs. Basierend
auf seiner Einsicht in die gelebte Reflexion, dessen immanenter Logik
zwischenmenschlichen Handelns und deren ausdrücklicher Reflexion in
vier grundlegenden Wertstufen begründet er eine die gesamte
Erfahrungswelt der Menschen umfassende Reflexionslogik. Mit ihr
behauptet er sich in der Meisterklasse abendländischer Philosophie –
dem Strukturalismus. Anknüpfend an die großen Denker der Aufklärung
entwickelt er auf eigenen Pfaden das Ordnungssystem der
Geisteswissenschaften und dessen Tiefenstruktur. Auch Themenfeldern,
in denen ihm nach eigenem Bekennen tiefere Erfahrungen und Wissen
fehlen, kann er doch Raum und Stellenwert im philosophischen Denken
zuordnen. Dabei gelingt es ihm, immer wieder an die Phänomene
menschlicher Erfahrungen anzuknüpfen und die vorgeschlagene
Strukturierung auch philosophisch ungeschulten Lesern plausibel zu
machen.
Heinrichs nicht nur formale sondern zugleich inhaltliche Themenstruktur
bietet sowohl Lösungen als auch vertiefende Fragestellungen und
markiert neue Forschungsfelder.
So wird für die Berufe in Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung
ersichtlich, dass ihre Aufgabe weniger in einer Erziehung hin auf kulturell
tradierte Erziehungsziele liegt als in begleitender Förderung eines
bewusst reflexiven Lebens der anvertrauten Personen. Diesem
Gedanken folgend, erweisen sich die reflexionslogische
Handlungstheorie und vor allem das daraus entwickelte Periodensystem
(zwischen-)menschlicher Handlungen als „Materialkunde“ aller
pädagogischen, psychologischen und therapeutischen Berufe. Wie ein
Schreiner die Holzarten, ein Schlosser oder Mechaniker die Metallarten,
ihre Eigenschaften und Bearbeitungsmöglichkeiten erlernen und kennen
muss, gehört zu jedem Beruf ein je spezifisches „Materialwissen“.
Ausgerechnet bei jenen Berufen, die explizit mit Menschen und ihrer
Entwicklung zu tun haben, stehen die reflexionslogische Handlungstheorie
und das Periodensystem zwischenmenschlichen Handelns bislang nicht
auf den Lehrplänen.
Eingebunden in die „Integrale Philosophie“ entwickelt er
sozialphilosophisch eine optimale Verbindung direktdemokratischer
Ansprüche und einem repräsentativen Parlament. Ausführlich entfaltet er
dieses Konzept in „Revolution der Demokratie“, das in überarbeiteter 2.
Auflage zeitgleich mit der „Integralen Philosophie“ erschienen ist.
Näheres dazu in meiner dortigen Rezension.
Heinrichs „Integrale Philosophie“ entfaltet die philosophische Reflexion
ausgehend von der Selbstbezüglichkeit des über eigene Erfahrungen
nach-denkenden Menschen. Er schlägt den Bogen vom Handeln über
Ausdrucks- und Zeichenhandeln hin zur Sprache in ihren verschiedenen
Abstufungen bis hin zur überhöhenden Reflexion der Sprache in der
Kunst. Souverän schreitet der Autor über die Kunstphilosophie zur
systematischen Reflexion der Sinn- und Seinsfragen in Mystik und
Ontologie, um am Ende des Bogens wieder beim Handeln
anzukommen. Diesmal jedoch bei der ethischen Reflexion des Handelns
auf dessen Wertgehalt und Sinnschöpfung.
In seiner Religionsphilosophie begegnet Heinrichs den Weisheitslehren
der verschiedenen Religionen und Kulturen mit großem Respekt, sind
sie in ihrer niedergeschriebenen Form doch jeweils menschliche
Erfahrungen mit den Phänomenen des Göttlichen. Auch den nicht
beweisbaren Dimensionen esoterischer, mystischer und spiritueller
Erfahrungen gibt der Autor ihre strukturelle Zuordnung.
Der einstige Jesuitenprofessor Heinrichs hatte diese geistige Weite über
Ordenslehre und kirchliche Dogmatik hinaus gesucht. In Orden und
Kirche fand er diese Weite nicht, kehrte ihnen konsequent den Rücken
und zahlte mit dem akademischen Exil einen hohen Preis.
Noch begreifen weder Kirche noch Orden, wie sehr sie sich durch die
Missachtung Heinrichs und seiner Reflexionslogik selbst schadeten.
Allein seine Sozialphilosophie hätte anknüpfend an die Systemkritik Karl
von Vogelsangs (1818-1890) bis Johannes Kleinhappels (1893-1979)
die traditionelle katholische Soziallehre revolutionieren können. So aber
verblieb und verbleibt sie in der Selbstfesselung durch die grundsätzliche
Akzeptanz des kapitalistischen Systems, der Kritik allein auf die
„Verwerfungen“ und eine systemimmanente Sozialpolitik. Gemessen am
eigenen Anspruch der Überwindung des Proletariats trifft leider das
Urteil: „Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger geendet“. Doch zu den
„verleugneten Propheten“ christlicher Sozialethik mehr später und an
anderer Stelle.
Die „Integrale Philosophie“ wäre ein faszinierendes Propädeutikum zum
Philosophiestudium wenn – ja wenn – diese Art von Philosophie im
akademischen Lehrbetrieb Thema wäre. Doch die vom Jesuitenorden
und katholischer Kirche unter Nutzung des Konkordatsrechtes
betriebene Verbannung des einstigen Musterschülers aus den
Universitäten wirkt nach.
Doch nach Paul Watzlawik gibt es auch immer etwas Gutes im Bösen.
Die Rückschau auf Heinrichs Lebenswerk erlaubt den Gedanken, ob
nicht gerade das akademische Exil die Brillanz seiner Arbeit befördert
hat. Wie es einst der polnische Philosoph Stanislav Jerzy Lec pointierte:
„Man hat mir meine Saite gekürzt, nun klingt sie höher!“
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